Sophie in Oakland

Als ich den Brief erhielt, in dem meine zukünftige Gastfamilie stand, wusste ich noch gar nicht recht, was ich da überhaupt machte oder machen würde. Es war Donnerstag 7.00 Uhr Morgens und plötzlich hatte ich eine Familie. Oakland, Nebraska würde für ein halbes Jahr mein zukünftiges zu Hause sein. Ab da war nichts mehr wie vorher. Ich genoss die restliche Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden. Ich beantragte das Visum ohne Schwierigkeiten, kaufte Gastgeschenke, schrieb Emails mit meiner Familie aus den USA, meisterte das Vorbereitungsseminar, packte meine Koffer und ehe ich mich versah stand ich auch schon am Flughafen. Bei jedem Menschen ist es eine andere Erfahrung mit dem Abschied nehmen. Für mich war es jedoch einer der schlimmsten Momente in meinem Leben. Die Menschen zu sehen, die man liebt, sie weinen zu sehen und zu wissen, dass sie es wegen dir tun, das ist etwas ganz unbeschreibliches. Ich habe geweint und auf Wiedersehen gesagt und bin ich gegangen. Und das ist meine Art auf Wiedersehen zu sagen: nicht zurück zu blicken.Zu meinem instabilen Zustand kam dann noch dazu, dass ich ganz alleine war. Ich bin früher geflogen, als vorhergesehen, weil ich mit meiner Gastfamilie eine Rundreise durch Amerika machen durfte. Also flog ich nicht mit allen anderen Austauschschülern zusammen, sondern ganz alleine. Alleine in diesem überdimensionalen Flugzeug, in dem ich mich trotz Trauer, Aufregung und fremder Sprache sehr wohl gefühlt habe. Vielleicht lag es auch daran, dass die Amerikaner alle so nett sind. Man muss nur fragen und schon wird dir alles nicht Vertraute erklärt und es ist so, als würdest du denjenigen schon eine ganze Weile kennen. Und dann war der Moment da: das Zusammentreffen zweier Kulturen, das Treffen meiner zukünftigen, amerikanischen Familie. Und da war sie. Ein großes überwältigendes Gefühl überkam mich und dann lag ich auch schon in ihren Armen. Ganz liebevoll haben sie mich aufgenommen und dann war ich auch schon ein Teil von ihnen. Zu meiner Gastfamilie gehörten eigentlich nur zwei Personen: Jane und Barry. Aber da sie schon älter sind, war quasi meine ganze Familie vertreten. Jane und Barry haben eine Tochter (Brandee) und einen Sohn (Dane). Dane wiederum hat eine riesengroße Familie. Daher hatte ich auch einen „Vater“, eine „Mutter“ (Lisa), eine große Schwester (Devyn) und fünf kleine Geschwister. Alle haben mich herzlich aufgenommen und zwei Tage nach meiner Ankunft ging es dann auch schon los: der Trip durch den Westen der USA. Colorado, Utah, Arizona und Nevada, genauer gesagt Las Vegas. Dieser 10-tägige Trip war eine Bereicherung für mein Leben. Ich sah die Landschaft, die Berge und die Flüsse. Die Stadt, die Lichter und die vielen Shows. Ich dachte es wäre bereits der Höhepunkt meines Aufenthaltes, dabei war es jedoch erst der Anfang. Ich denke ich hatte nicht nur den Vorteil, dass ich soviel von Amerika sehen durfte, sondern auch, dass es ganz schnell ging mit dem Vertrauen und der Sprache. Denn wenn man zehn Tage lang mit Gastmutter, zwei Gastgeschwistern und einer Freundin der Gastschwester in einem Auto sitzt geht es entweder komplett schief oder es ist einfach perfekt. Und bei mir war es einfach perfekt. Von der großen, weiten Welt ging es dann nach zehn Tagen zurück nach Oakland. Eine 2.000 Einwohner Stadt, die eine „Main Street“ von ungefähr 100 Metern hat. Da die High School noch nicht angefangen hatte, war ich viel mit Devyn, meiner Gastschwester, unterwegs. Sie hat mich den Leuten vorgestellt und obwohl sie mich erstmal komisch beäugt und mich mit komischen Fragen gelöchert haben, wurde ich von allen herzallerliebst aufgenommen. Es war wirklich einfacher, als ich dachte. Dann hatte ich auch schon den ersten Schultag, der wirklich reibungslos verlief. Bis auf ein paar Verständnisprobleme, wie z.B. den Lehrer oder die Mathe Aufgabe verstehen (Find the average speed for the given distance and time. Show unit analysis to check units.), war alles unglaublich spannend und schön. Langsam kehrte dann auch der Alltag in mein neues Leben ein. In der Woche ging um 8.20 Uhr die Schule los, ich hatte meine Fächer, darunter auch American History, was nicht mein absolutes Lieblingsfach war. Ich ging nach Hause, wurde für Golf abgeholt, kam nach Hause, aß etwas, machte meine Hausaufgaben und wenn noch Zeit war unterhielt ich mich mit meinen Gasteltern über unsere verschiedenen Kulturen oder lief einfach vier Blöcke weiter, um mich mit meinen Freunden zu treffen. Ein normales Leben, dass trotz der vielen Ereignisse und Neuheiten immer wieder unterbrochen wurde und ein wahres Abenteuer war. Mein Lieblingsfach in der Schule, neben Mathe und Kunst, die einfach nur sehr leicht waren, war Englisch. Wir haben viele Geschichten geschrieben und jeder musste sie dann in der Klasse vorlesen. Natürlich war es das erste Mal eine große Überwindung für mich, vor der ganzen Klasse meine Geschichte vorzulesen. Aber ist das, was man bei so einem Austausch macht, nicht immer grenzenlose Überwindung? Macht man nicht jeden Tag etwas, wobei man eine rote Linie überqueren muss und über seinen eigenen Schatten springen muss? Einmal hatte ich in Englisch einen Text über meine kleine Schwester in Deutschland verfasst. Als ich vorlas wusste ich, dass ich eine Menge Fehler hatte, aber das war meinen Zuhörern wohl egal. Als ich fertig war, war da erstmal eine lange Pause und dann meinte meine Lehrerin: „Das war wirklich schön. Sag mal, du vermisst deine Schwester, oder?“ Und dann saß ich da, einfach so und sagte mit leiser Stimme: „Ja, das tue ich. Das tue ich sehr.“ Und damit wären wir beim Thema Heimweh. Jeder Mensch hat irgendwann ein mal Heimweh und ich hatte meinen in der Mitte meines Aufenthaltes. Es kam aber nicht, weil ich mich nicht wohl fühlte, es war einfach da und wahrscheinlich gibt es auch keine richtige Erklärung dafür. Bei all dem was ich erlebt habe, musste ich immer an irgendjemanden aus meiner Familie oder meinem Freundeskreis denken. Zwar existiert noch nicht die Teleportation, aber dafür ein Telefon oder, was ich verwendet habe, Skype. Eine tolle Möglichkeit sich mit Familie und Bekannten in Verbindung zu setzten. Mit ihnen zu reden und sie zu sehen. Mir hat es sehr geholfen. Was mich vielleicht am meisten beeindruckt hat, war die Gemeinschaft der Schule. Der Zusammenhalt, der immer da war. Das sah man immer Freitag Abends bei den Football Spielen oder Nachmittags beim Volleyball. Sport spielt in Amerika eine sehr große Rolle und durch ihn lernt man viele Leute kennen. Der Zusammenhalt ist mir sehr wichtig geworden, denn Teamwork gehört zum Leben dazu und wenn man zusammen an etwas arbeitet, kann man alles auf die Beine stellen. Ich lernte von Tag zu Tag mehr. Ich ging zu einem Football Spiel des Nebraska College Teams, fuhr nach Kansas, hatte Erfolge im Golfen, die Noten verbesserten sich von Test zu Test, die Menschen wurden mir immer vertrauter, meine Kleidergröße größer und vor allem verbesserte sich mein Englisch. Und dann war da diese Nacht, in der man dann endlich mal in Englisch träumt und weiß: jetzt hat es klick gemacht. Das tolle an einer Highschool ist, dass wirklich alles wie im Film ist. Natürlich springen sie nicht auf und fangen an zu singen oder tanzen, aber ihre Bälle sind immer noch Standard. Ich war bei dem Homecoming Dance, ein wirklich tolles und witziges Erlebnis, was man gerne als Erinnerung mit nach Hause nimmt. Thanksgiving ist ein berühmter Feiertag in Amerika. Der Truthahn, der im Ofen brutzelt, die Dankesrunde am Tisch und das viele Essen, bis einem schlecht wird. Eine Tradition meiner Familie war es, Socken über dem Kamin aufzuhängen, damit Santa Claus auch auf jeden Fall vorbei schaut. Ich hatte damit gerechnet, dass sie alle ihre Socken aufhängen würden und ich es einfach nur genieße. Ich hatte nichts erwartet und nachdem alle ihre Socke aufgehängt hatten holte Jane plötzlich eine weitere bestickte Socke heraus. Ihr Blick sagte schon alles. Auf der Socke stand mein Name. Jane sagte mir, jeder aus dieser Familie hätte eine eigene Socke, ich sei jetzt ein Teil dieser Familie und bräuchte deswegen auch eine. Sie hatte die Weihnachtssocke extra für mich bestickt, schon bevor ich überhaupt in Amerika ankam. Ein wunderschöner Moment, den ich mit Tränen in meinem Herzen festgehalten habe.  Und dann wurde es auch schon Winter und mit jedem Tag der verstrich, sah ich mich schon im Flugzeug zurück nach Deutschland fliegen, was mich sehr traurig machte. Aber ich wusste nicht, dass sich die Ereignisse noch so überschlagen würden...Zum Glück hatte ich noch etwas Zeit, die ich bis zum Anschlag nutzte. Und damit ich meinen Aufenthalt auch auf keinen Fall vergessen würde, fragte mich meine Chor Lehrerin, ob ich nicht vielleicht Lust hätte die Amerikanische Nationalhymne zu singen. So kam es also dazu, dass ich sie Freitagabend bei einem Basketball Spiel vorsang. Es war ein unbeschreiblicher Moment den ich nie wieder vergessen werde. Die Leute, die dich anstarren und ich, mit meinem deutschen Akzent, darf die Ehre haben, die Nationalhymne Amerikas zu singen. Unglaublich. Weihnachten stand dann schließlich auch vor der Tür. Eine wunderschöne Zeit, wo man einfach nur mit der Familie vor dem Kamin sitzt und sich Dinge erzählt. Ich hatte noch zwei Wochen Zeit, doch da wusste ich noch nicht, dass diese zwei Wochen in Oakland durch einen Urlaub verkürzt werden würden. Meine Familie schenkte mir eine Reise nach Florida. Ich durfte für fünf Tage in der Sonne liegen und den wunderschönen Strand von Fort Myers bewundern. Und dann war der Moment da. Die Verabschiedung von den Menschen, die mir in einem halben Jahr so ans Herz gewachsen sind, von meinen Leben als Amerikanerin zurück in das Leben einer Deutschen. Gedämpfte Stimmung. Schon als wir die Landstraße entlang fuhren, gab es keine Geräusche. Oakland schien wie leergefegt. Keine Vögel, der Wind schien völlig still zu sein. Kein Geräusch, rein gar nichts. Der Abschied war nicht das allerschlimmste für mich. Trotz allem habe ich geweint und alle um mich herum mit. Ich hatte zwei Seelen in meinem Körper, die eine, die sich über sich selber ärgerte, weil sie der besten Zeit ihres Lebens den Rücken kehrte und die Zweite, die eine Vorfreude auf die Leute hatte, die in Deutschland schon auf mich warteten. Ich drehte mich um und ging. Einfach so. Ich schaute nicht zurück, denn die Tränen die ich geweint hatte, waren noch nicht getrocknet. Komischerweise war es die gleiche Situation, die ich hatte als ich mich von meiner Familie in Deutschland verabschiedete. Ich habe genau das Gleiche gemacht. Ich habe geweint und geweint, und dann habe ich mich umgedreht und bin gegangen. Kein Zurückschauen. Das ist meine Art, Verabschiedungen über mich ergehen zu lassen. Kein Mensch kann davor wegrennen, aber man kann lernen damit umzugehen. Die lange Reise war anstrengend und die Anspannung auf das Wiedersehen stieg mit jedem Schritt Richtung Familie. Es war ein schönes Gefühl sich wieder in einer gewohnten Umgebung zu befinden, aber dazu muss man sagen, so „gewohnt“ war dieses Umfeld leider auch nicht mehr. Der Jet-Lag ging schnell vorbei und dann fing auch direkt die Schule wieder an, in der ich sehr, sehr nett aufgenommen wurde. Ich habe alle Erinnerungen mit nach Hause genommen. Sie gehören nun zu mir und ich habe gelernt, dass ich eine wundervolle und tolle Familie in Deutschland habe und eine zweite großartige Familie in Amerika. Beide sind ein Teil von mir und mit beiden fühle ich mich so nah wie möglich verbunden. So einen Austausch machen zu können ist eine sehr gute Sache und ich würde es jedem empfehlen. Man lernt so viele Dinge und so viele neue, wunderbare Menschen kennen. Es wird immer Höhen und Tiefen geben und genau deswegen lernt man auch so viel in dieser Zeit. Man wird selbstbewusst und offen. Man wächst an den Erfahrungen, die man gemacht hat und wer weiß, vielleicht findet man ja gerade im Ausland das fehlende Puzzleteil seines Daseins.